«Es war nur noch die Liebe da» - demenzjournal.com

Im Gespräch

«Es war nur noch die Liebe da»

Bei Erinnerungen spielen oft starke Gefühle und Sinneswahrnehmungen eine Rolle. Bild Dominique Meienberg

Elisabeth Dolderer-Thalmann begleitete ihren demenzkranken Partner. Monika Schmieder war Pflegedienstleiterin in der Sonnweid und arbeitete über 30 Jahre lang mit Menschen mit Demenz. alzheimer.ch unterhielt sich mit den beiden zum Thema Erinnerungen.

alzheimer.ch: Welches ist Ihre früheste Erinnerung?

Monika Schmieder: Diese Frage ist schwierig zu beantworten. Ich bin nicht sicher, ob es wirklich Erinnerung ist, oder ob es das ist, was man mir erzählt hat. Bei mir war es an Weihnachten, ich war drei Jahre alt, hatte einen Löffel im Mund und balgte mit meiner Schwester. Sie stiess mich, und ich blutete aus dem Mund.

Elisabeth Dolderer: Bei mir ist es eine Flädli-Suppe. Ich sass bei meinen Grosseltern in einem feudalen Zimmer. Grossvater wollte die Mittagsnachrichten hören, da musste es still sein. Die Verbindung des Geruchs der Suppe, des Erkennungstons der Nachrichten und des Schweigens ist eine sehr starke Erinnerung. An den silbernen Schöpflöffel erinnere ich mich auch sehr gut. Ich glaubte nämlich, dieser Löffel sei im Himmel, weil ja der Schöpfer im Himmel ist.

Warum sind genau diese Erinnerungen geblieben?

Elisabeth Dolderer: Ich denke, es sind die starken Emotionen und Sinneseindrücke, die haften bleiben. Lachen, Schmerz, Freude, Wut, Beleidigung. Auch bei späteren Erinnerungen, die mir geblieben sind, waren starke Gefühle im Spiel.

Gibt es Methoden, um Vergessenes wieder in Erinnerung zu holen?

Elisabeth Dolderer: Bei mir braucht es nur einen Geruch, dann bin ich wieder dort. Ich kann mich ganz stark an meine Mutter erinnern. Sie war eine herzensgute Frau und wollte es ganz richtig machen. Ich könnte einen Roman erzählen über die Strafen in einer christlichen Erziehung. Wenn ich Herrn Blocher reden höre, denke ich: «Ja, der ist ähnlich wie ich erzogen worden.»

Blochers Reden lösen bei Ihnen also Erinnerungen aus…

Elisabeth Dolderer: Sehr viele. Durch eine Therapie, die ich mit 40 machen musste, sind viele Erinnerungen hochgekommen. Manchmal sagte mir meine Mutter vor dem Einschlafen: «Weil du das gemacht hast, fühlt sich der Liebe Gott jetzt sehr schlecht.» Und ich wusste nicht, was ich falsch gemacht hatte.

Monika SchmiederBild Véronique Hoegger

Inwiefern wird Erinnerung beeinflusst durch positive oder negative Gedanken?

Monika Schmieder: Ich glaube, es ist ein Prozess. Es gibt Dinge, an die ich mich lange mit einem schlechten Gefühl erinnerte. Mit den Jahren beginnt man sich damit anzufreunden. Man merkt, dass die Zeiten halt anders waren, und dass die Eltern immer das Beste gegeben haben. 

«Ich habe Frieden geschlossen mit den Erinnerungen. Ich schwatze die Sachen nicht schön, aber es tut mir sehr gut, dass ich keine Schuld mehr verteilen muss.»

Ist die Versöhnung mit der Vergangenheit eine Voraussetzung zum Glück?

Elisabeth Dolderer: Erinnerungen verwandeln sich – man kann nie sagen, es war genau so. Dann sind wir wieder bei den Emotionen und den Furchen, die schlechte Erlebnisse auf der Seele hinterlassen. Das erlebe ich auch in der Pflege.

Die Bewohner erzählen manchmal Sachen, von denen ihre Kinder sagen, sie könnten nicht wahr sein. Die Emotion ist das Wahrhaftige – und nicht die Wirklichkeit, die ja immer subjektiv ist.

Monika Schmieder: Ich finde es erstaunlich, wie Dinge und Erlebnisse aus der Vergangenheit plötzlich wieder da sein können. In Kursen arbeite ich jeweils mit Symbolen aus der Kindheit. Manchmal entgleisen diese Übungen fast, weil damit Erinnerungen und Emotionen geweckt werden.

«Es kann ja auch ein grosses Glück sein, wenn wir die Erinnerungen ruhen lassen können. Wahrscheinlich wären wir masslos überfordert, wenn wir diesen Ballast immer mit uns herumtragen müssten.»

Monika Schmieder

Elisabeth Dolderer: Mich interessieren auch die Erinnerungen des Körpers. Wenn ich nach langer Zeit wieder einmal die Sopranflöte in die Hand nehme, wissen meine Finger, dass sie jetzt anders greifen müssen.

Zutiefst beeindruckt hat mich der Fall einer schwer dementen und bettlägerigen Frau in einem Pflegeheim, in dem ich arbeitete. Wenn man wie gewöhnlich beim Waschen neben ihrem Bett stand, schrie sie und schlug um sich. Also setzte ich mich neben sie und wusch sie so – und es gab keine Probleme mehr.

Elisabeth Dolderer-ThalmannBild Véronique Hoegger

Als ich aber etwas am Kopfende ihres Bettes nehmen musste und mich über sie beugte, schrie sie auf. Ich dachte für mich: Dieser Frau müssen schlimme Sachen angetan worden sein. Ihr Körper erinnerte sich daran und liess es nicht mehr zu, dass jemand über sie kam.

Ihr Partner erkrankte an einer Demenz. Welche Erinnerungen aus dieser Zeit sind sehr präsent?

Elisabeth Dolderer: Dass er sehr geduldig und emotional war. Er hatte Angst davor, dass er einmal einen Wutanfall haben und jemandem wehtun würde.

Wie entwickelte sich sein Gedächtnis in dieser Zeit?

Elisabeth Dolderer: Was über den Kopf lief, war schnell weg. Es waren die Emotionen und Sinneseindrücke, die ihm geblieben sind. Ich denke, hier haben die Leute um die Betroffenen herum eine grosse Verantwortung. Wenn jemand traurig ist, weil ihm die Worte nicht mehr einfallen, kommt es stark darauf an, wie sein Gegenüber reagiert. Ein Teil dieses Leidens sind die anderen und ihre Reaktionen.

Monika Schmieder: Da gebe ich Ihnen zum Teil recht. Wenn der Mensch aber merkt, dass er die Erinnerung und Orientierung verliert, bleibt diese Erinnerung haften. Ich glaube, das ist einfach schwierig. Erinnerung an Aufgaben, die man glaubt machen zu müssen – aber man weiss nicht mehr, wie es geht oder was es genau ist: Das löst Verzweiflung aus, manchmal auch Panik.

Ein Fallbeispiel: Eine 80-jährige Frau mit Demenz liegt im Sterben. Sie ist sehr unruhig und bittet Gott immer wieder um Vergebung. Offenbar hatte die Frau, die in einem sehr katholischen Umfeld gelebt hatte, mit 20 ein uneheliches Kind. Wie kann man dieser offensichtlich an schlechten Erinnerungen leidenden Frau beistehen?

Monika Schmieder: Indem man da ist und das Gefühl teilt. Mehr kann man nicht machen – es gibt ja keine Lösung des Problems. Man muss auch sehr achtsam sein und sollte nicht interpretieren. Vielleicht hat sie ja einfach auf ihre Art Abschied genommen vom Leben. Das versuche ich zu leben: den Weg gehen, der nicht immer einfach ist. Ich kann ihr ja nicht sagen: «Sie müssen jetzt keine Schuldgefühle mehr haben.»

Elisabeth Dolderer: Die Hilflosigkeit der Begleitenden ist manchmal grauenhaft. Sprüche wie «Sie hatten es ja sonst sehr schön» sind in solchen Situationen einfach deplatziert.

Monika Schmieder: Es ist nicht mein Recht, das Gefühl zu übernehmen oder zu beschwichtigen. Ich muss und darf es bei den Menschen lassen – aber immer mit dem nötigen Respekt.

Elisabeth Dolderer: Wenn ich Kurse gebe, erlebe ich immer wieder, wie die Leute instinktiv sagen: «Das macht doch nichts. Du musst jetzt nicht traurig sein.»

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Man beobachtet es immer wieder im Umgang mit Kindern: Du musst keine Angst haben, das tut doch nicht so weh und so weiter…

Monika Schmieder: Ich habe das Gefühl, es hat mit mir selbst zu tun. Ich halte es nicht aus, wenn das Gegenüber traurig ist, also tröste und beruhige ich es. In einem normalen Umgang kann man dies machen – aber man muss immer schauen, wo jemand im Leben steht. Wenn meine Kinder vor einer Abschlussprüfung stehen und Angst haben, sage ich manchmal auch: «Das schaffst du schon.» Man muss sich fragen, wie ich der Person in einem bestimmten Moment beistehen kann.

Bleibt die Liebe auch bestehen, wenn der Partner nicht mehr als Partner erkannt wird?

«Mein Mann erkannte mich bis zum Schluss. Aber Nähe und Zärtlichkeit waren viel wichtiger, auch wenn der Kopf vieles nicht mehr wusste.»

Elisabeth Dolderer

Monika Schmieder: Ich bin sehr überzeugt davon, dass Menschen auch mit schwerer Demenz vieles spüren und wahrnehmen. Ich glaube daran, dass es abgerufen wird.

Elisabeth Dolderer: In der Beziehung zu meinem Partner gab es gar keine praktischen Probleme mehr. Ich musste ihn nicht pflegen und hatte keine Erwartungen an ihn. Ich konnte nur noch mit ihm spazieren und ihn halten. Es machte ja nichts, wenn er nicht mehr viel wusste. Es war nur noch die Liebe da.

Warum setzen jetzt so viele Institutionen auf das Konzept der Nostalgie, indem sie Häuser im Stil der 1960er-Jahre bauen und Kulissen mit alten Sujets aufstellen?

Elisabeth Dolderer: Es geht um die Frage, ob man vom Menschen oder von einer Idee ausgeht. Meiner Meinung nach zeigt diese Entwicklung eine Überschätzung des Intellekts. Am Schluss bleibt aber doch nur die Emotion des Menschen. Gegen den Tod hin noch viel mehr – auch bei den Menschen ohne Demenz. Da könnten wir jetzt Maslow zitieren.

Monika Schmieder: Der Mensch geht zurück auf seine Grundbedürfnisse. Es entlastet sehr, wenn man kein Handy mehr braucht und nicht immer erreichbar sein muss. Wichtiger wird, dass ich Zuwendung und Nahrung habe. Hinter dem Erfolg der künstlichen Welten steht auch das Geschäft. Und man will einen Rahmen schaffen, der die Betreuung vereinfacht. Es steht auch die Hoffnung dahinter, dass man den schwer kranken Menschen Normalität geben kann.

«Es macht Menschen krank, wenn sie mit ihren Problemen allein gelassen werden. Deshalb ist es gut, dass es demenzjournal.com gibt.»

Gerald Hüther, Hirnforscher und Bestsellerautor

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 Eine Debatte unter Fachleuten gibt es auch in der Biografiearbeit. Wie wird der Umgang mit der Vergangenheit in der Sonnweid praktiziert?

Monika Schmieder: Die Eckdaten einer Biografie und der Respekt vor einem gelebten Leben sind wichtig. Aus einer Biografie heraus sollen aber keine Vorurteile entstehen. Man muss sich auch bewusst sein, wer die Biografie geschrieben hat. Fähigkeiten sind verloren gegangen, Sachen die wichtig waren, sind nicht mehr wichtig oder werden nicht mehr als solche erkannt. Wenn man sie dann abrufen will auf Biegen und Brechen, sind Menschen mit Demenz sehr oft überfordert.

Die Erinnerungen sind also nicht so wichtig in der Definition des Individuums…

Elisabeth Dolderer: Gegen das Ende hin offensichtlich nicht.

«Es ist egal, was früher gut oder schlecht war. Erinnerungen sind in jedem Fall ein Lebensschatz»

Elisabeth Dolderer

Monika Schmieder: Wir wissen nicht, wie die Erinnerungen abgespeichert sind. Vielleicht ist bei Menschen mit Demenz viel mehr da, als wir vermuten. Es gibt immer die Ansicht von innen und von aussen. Obwohl ich diese Arbeit jetzt schon 30 Jahre mache, habe ich das Gefühl, immer aussen zu sein.

Wenn Sie heute an die gemeinsame Zeit zurückdenken: Haben Sie die schönen Zeiten mehr in Erinnerung als die schlechten?

Elisabeth Dolderer: Es geht darum, dass ich es erleben durfte… Das war mein Leben, und ich bin dankbar dafür. Es ist die Beziehung und die Geschichte – es war ein Stück Leben, es war mein Leben. Es gehört alles dazu. Es ist egal, was gut oder schlecht war. Erinnerungen sind ein Lebensschatz…

Monika Schmieder: …den man nicht auf die Seite schieben kann.

Danke für das interessante Gespräch.


Elisabeth Dolderer-Thalmann ist diplomierte Pflegefachfrau und Erwachsenenbildnerin. Ihr Partner erkrankte an einer Demenz und lebte zwei Jahre lang in der Sonnweid. Monika Schmieder war Pflegedienstleiterin in der Sonnweid. Sie arbeitete über 30 Jahre lang mit Menschen mit Demenz.